Am San Rafael Gletscher – von Eis und wilden Tieren

Seekarte Golfo Corcovado bis Golfo Penas mit Gletscher San Rafael
Golf Corcovado (N) bis Golf von Penas (S). Lagune San Rafael (rot)

Die San Rafael Lagune ist das südlichste Ende des Estero Elefantes, einer Sackgasse, der nur wenige Seemeilen fehlen, um den nördlichen Teil Patagoniens mit den Kanälen südlich des Golf von Penas zu verbinden. Um von San Rafael aus weiter nach Süden zu fahren folgt einer der wenigen Abschnitte, an denen man aufs offene Meer muss. Aber das liegt für uns noch in der Zukunft, denn für diese Saison sind der San Rafael Gletscher und die gleichnamige Lagune unser südlichster Punkt. Anschließend geht es von hier aus zurück nach Norden bis Puduhuapi, wo wir den Südwinter verbringen werden und von wo aus wir im Juni für drei Monate nach Deutschland fliegen werden.

Rio Los Patos und Rio Tempanos

Wir liegen im Rio los Patos vor Anker, einem kleinen Nebenfluss des Rio Tempanos, welcher den nur wenige Meilen entfernten San Rafael Gletscher mit dem Meer verbindet. Unser Hauptanker sowie drei Landleinen, eine nach vorne Steuerbord und zwei nach achtern, halten uns auch bei viel Wind sicher an Ort und Stelle. Die Landschaft ist flach auf der einen und bewaldet auf der anderen Seite, der morastige Untergrund und die ausgewaschenen Ufer machen es gar nicht so einfach, bei Ebbe vom Beiboot aus mit den langen, schweren Leinen an Land zu klettern und Bäume zu finden, die stabil genug sind, auch bei viel Wind unsere ARACANGA sicher zu halten. Schließlich werden wir aber fündig und freuen uns auf unseren ersten Gletscher.

Kira, Naia und Martin, im Hintergrund der San Rafael Gletscher
Endlich sehen wir unseren ersten Gletscher

Am nächsten Vormittag legen wir mit einsetzendem Flutstrom ab, so dass eventuelles Eis im Rio Tempanos, der übersetzt Eisbergfluss heißt, uns nicht entgegen kommt, sondern mit unserer Fahrtrichtung in die Lagune gedrückt wird. Je näher wir der San Rafael Lagune kommen, desto mehr Grower und Bergy Bits, wie die mittelgroßen und größeren Eisstücke genannt werden, schwimmen neben uns her, oder sie sind an den Flussufern auf Grund gelaufen. Dann kommt der große Moment. Wir biegen in die Lagune ein und sehen den San Rafael Gletscher, unseren ersten Gletscher. Kira, die seit sie sprechen kann davon redet, dass sie Schnee und Eis sehen möchte, steht mit Naia am Bug und die Beiden hören gar nicht mehr auf, vor Freude zu kreischen: „Danke ARACANGA, danke dass Du uns hier her gebracht hast! Danke! Danke! Danke!“

Der San Rafael Gletscher

Growler und Bergy Bits in der Lagne San Rafael
Wir suchen uns einen Weg durchs Eis zum San Rafael Gletscher

Der San Rafael Gletscher ist der nördlichste bis zum Meer reichende Gletscher der südlichen Hemisphäre. Die halbmondförmige Lagune, in die der Gletscher mündet, misst etwa acht Meilen an seiner breitesten Stelle und ist je nach Wind und Strömung mehr oder weniger voll mit Treibeis. Bei der Einfahrt in die Lagune haben wir den Eindruck, dass es kaum ein Durchkommen bis zum San Rafael Gletscher gibt. Aber je weiter wir fahren, desto mehr Lücken tun sich auf und nach und nach finden wir einen Weg zum Gletscher. Wir fahren sehr langsam und unseren Anker lassen wir, wie wir es im Cruising Guide gelesen haben, etwas ins Wasser hängen, damit dieser die kleinsten Eisstücke vor dem Bug auf die Seite drückt. So richtig bewährt sich die Methode allerdings nicht da sich immer wieder Eisstücke im Anker verhaken.

Die ARACANGA am San Rafael Gletscher
Die Stimmung ist magisch vor dem Gletscher

Zwei Stunden später sind wir so weit am Gletscher, wie es das Eis erlaubt. Die schmelzenden Eisstücke knacken und klirren, an den größeren Bergy Bits hört man das geschmolzene Wasser in kleinen Rinnsalen ins Meer tropfen, es ist eine magische Kulisse für alle Sinne. Das Eis um uns herum schimmert in den verschiedensten Formen und Blautönen, von kräftigem Azur über Himmelblau und Türkis bis hin zu stählernem Eisblau. Hin und wieder hören wir ein lautes Krachen im Gletscher und einmal beobachten wir, wie der Gletscher einen massiven Eisberg donnernd in die Lagune kalbt. Etwa eine Minute später erreicht uns die Welle, eine langgezogene Woge, einen knappen Meter hoch, die die ARACANGA sanft hin und her schaukeln lässt.

Die ARACANGA vor dem San Rafael Geltscher
Wir lassen uns treiben und genießen die Stimmung

Wir stellen den Motor ab, beobachten und staunen und lassen die Szenerie auf uns wirken. Die Zeit vergeht im Fluge und schon bald ist es an der Zeit, den Rückweg zu unserem Ankerplatz anzutreten. „Aber vorsichtig, Papa. Nicht Eisbrecher spielen“, meint Kira. Ganz vermeiden lässt es sich nicht, dass die kleinsten Eisstücke den Rumpf berühren, sie sind jedoch so klein, dass sie keinen Schaden anrichten. Zweimal müssen wir kleinere Felder von Treibeis durchqueren, dazu lassen wir die Maschine im Standgas laufen und schieben vorsichtig das Eis aus dem Weg. Vorwärtsgas drin lassen, nicht rückwärts fahren, so lautet die Regel. Bei Vorwärtsfahrt schützt der Kiel die direkt dahinter sitzende Schraube, bei Rückwärtsfahrt besteht das Risiko, dass sich Eis zwischen Rumpf und Schraube klemmt und im schlimmsten Fall einen größeren Schaden verursachen kann. Das zehntausende von Jahren alte Gletschereis ist hart wie Stein.

Zurück zum Rio

Die ARACANGA im Rio Los Patos
Der kaffeebraune Rio los Patos trifft den eisblauen Rio Tempanos.

Eine gute Stunde später sind wir zurück im eisblauen Rio Tempanos und noch eine halbe Stunde später fahren wir über eine wie mit dem Stift gezogene Linie in den kaffeebraunen Rio Los Patos ein. Mittlerweise kennen wir die kräftigen Strömungsverwirbelungen zwischen den beiden Flüssen und nachdem die ARACANGA einmal kräftig nach backbord gezogen wird, sind wir in dem kleinen Nebenfluss. Wir möchten wieder mit dem Bug flussabwärts ankern, heute allerdings etwa hundert Meter weiter flussaufwärts, wo wir zwei etwas geeignetere Bäume für unsere Leinen am Ufer erspähen. Gegen die Strömung zu ankern ist kompliziert, beim ersten Mal sind wir zu langsam mit dem Ausbringen der Leinen, das Boot wird vertrieben und unsere Kette kommt unklar unter Wasser. Sie verhängt sich zwischen Felsen oder toten Baumstämmen, wir müssen den Anker wieder aufholen und einen zweiten Versuch starten. Folgende Methode hat sich für uns bewährt: Anstatt rückwärts zu ankern, wie man es lehrbuchmäßig macht, lassen wir den Anker und die gewünschte Kettenlänge bei langsamer Vorwärtsfahrt ausrauschen. Sobald sich die Kette spannt gibt Riki voll Ruder auf Backbord, so dass sich die ARACANGA auf der Stelle um 180 Grad dreht, und hält dann mit rückwätsgas die Position. Zeitgleich fahre ich mit der ersten Heckleine zu einem geeigneten Baum, wo diese mit einem möglichst großen Palstek festgeknotet wird. Möglichst groß deswegen, damit wir sie beim Ablegen auch bei Ebbe vom Beiboot aus lösen können. Sobald die erste Leine fest ist, holt Riki diese an Bord dicht. Bis hierhin muss alles möglichst schnell gehen, um nicht wieder von der Strömung vertrieben zu werden. Um dem ganzen Anlegemanöver die richtige Würze zu geben ruft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im entscheidenden Augenblick eines der Kinder, dick wie eine Zwiebel eingepackt, dass es aufs Klo muss. Irgendwie klappt alles und ist die erste Leine fest, haben wir alle Zeit der Welt, weitere Leinen zu legen.

Sicher vertäut, Ankerbier, Feierabend. Vom langen Tag erschöpft gehen wir früh in die Koje. Die nächsten zwei Tage wird der Wind ordentlich zulegen, da werden wir unseren sicheren Ankerplatz nicht verlassen.

Rumms und Schreck

Eis im Rio los Patos
Growler treiben bei Flut den Rio los Patos hoch

In der Nacht macht es einen gewaltigen Rumms, es klingt, als ob wir ein anderes Schiff gerammt hätten. Kann natürlich nicht sein, wir liegen schließlich ganz allein in der Wildnis. Der Bug hebt sich leicht an und das hässliche Geräusch reißt einige Sekunden lang nicht ab. Dann, als ob nichts gewesen wäre, schaukelt das Boot noch einmal und bleibt ganz ruhig liegen. In der Ferne hören wir noch ein schabendes Geräusch. Riki ist bereits aus der Koje, ich, aus dem Tiefschlaf gerissen, brauche eine Sekunde, um mich zu orientieren, bevor ich mit unserem Suchscheinwerfer bewaffnet ins ungemütlich kalte Cockpit komme. Am Ende unserer etwa 50 Metern entfernt an einen Baum geknoteten Backbord-Heckleine sehen wir einen massiven Growler von etwa drei Metern Durchmesser hängen. Es ist Hochwasser, daher sind die Leinen nah am Wasser, außerdem ist Vollmond, was bedeutet, dass der Unterschied von Flut und Ebbe besonders groß ist und folglich die Strömungen entsprechend stark. Aktuell ist der Flutstrom stärker als die Strömung des Rio los Patos, wodurch vereinzelte Eisstücke in den Fluss gedrückt werden. Die restliche Nacht finden wir kaum ruhigen Schlaf. Das Schauspiel wiederholt sich noch zweimal. Die Eisbrocken werden zuerst auf die Ankerkette gedrückt und dort abgebremst, dann rumpeln sie entlang des Rumpfes, bis sie in der Heckleine hängen bleiben und sich irgendwann unter dieser hindurcharbeiten. Glücklicherweise haben wir zusätzlich zum Anker eine dritte Leine nach vorne gespannt, sollte ein Grower den Anker herausziehen (was nicht passiert). Erst als die Flut seinen Höchststand erreicht und die Strömung ihre Richtung ändert, sind wir etwas entspannter. Am nächsten Morgen ändern wir die Winkel der Heckleinen etwas und ziehen uns weiter nach Steuerbord in eine Ausbuchtung am Ufer, heraus aus der Hauptströmung. Gleichzeitig knoten wir die Leinen deutlich höher fest, so dass eventuelle Grower darunter durch schwimmen können. Wir vermuten, dass die Eisstücke weiter flussaufwärts stranden und bei sinkendem Wasserstand liegen bleiben, denn wir sehen kein Eis zurückkommen. Bei der nächsten Flut beobachten wir wieder Grower flussaufwärts treiben, jetzt jedoch in sicherem Abstand zur ARACANGA.

Regentage

Naia und Martin beim Wandern
Nach ein paar Regentagen tut es gut, wieder zu laufen

Die nächsten beiden Tage bleiben wir an Bord, es ist windig und regnerisch und draußen auf dem Rio Tempanos steht eine ungemütliche Welle. Eine Regenpause, für kurze Zeit spitzt sogar die Sonne heraus, nutzen wir, um mit dem Beiboot den Rio Los Patos zu erkunden. Weite, supmpfige Wiesen wechseln sich ab mit bewaldeten Uferabschnitten. An Land zu gehen ist unmöglich, entweder ist die Vegetation viel zu dicht, oder der Boden zu sumpfig. Somit begnügen wir uns mit dem einzigen kleinen „Strand“ in der Nähe, wo die Kids sich endlich mal wieder ordentlich mit Sand, Lehm und Dreck einsauen können.

San Rafael Gletscher zum Zweiten

Riki am Bug der ARACANGA, im Hintergrund der San Rafael Gletscher
Auf dem Weg zum Gletscher

Nach zwei Regentagen haben wir das Glück, noch einen wunderbar windstillen Sonnentag zu bekommen, um die Lagune und den San Rafael Gletscher ein zweites Mal zu besuchen. Ganz im Nordosten der Lagune gibt es einen Ankerplatz hinter einer Sandbank, der vor größeren Eisstücken relativ sicher ist. Wir ankern auf acht Meter Wassertiefe und fahren mit dem Dinghy zu einem etwas baufälligen Steg der örtlichen Naturschutzbehörde CONAF, um etwas zu laufen. Eine Tafel am Ufer beschreibt die örtliche Fauna und wir sind schwer überrascht, dass es hier an Land Pumas und im Wasser Seeleoparden gibt. Erstere hätten wir weiter nördlich eingeordnet, zweitere in der Antarktis. Die Lagune San Rafael ist eine der wenigen Populationen von Seeleoparden außerhalb der Antarktis, hier leben etwa zehn Tiere. Wir laufen los in Richtung Gletscher und werden begrüßt von einem Schwarm grüner Papageien, die ein Riesengeschrei machen.

Pfotenspuren im Matsch
Wir sehen die verschiedensten Pfotenspuren

Eisvögel und Papageien – eigentlich sind es Sittiche – im selben Baum, die Tierwelt hier in Patagonien überrascht und beeindruckt uns jeden Tag aufs Neue. Entlang des Weges sehen wir viele verschiedene Pfotenspuren der verschiedensten Tiere, von Rehen (hier in Patagonien lebt die kleinste Rehart) über Wildkatzen (zu klein für den Puma, aber deutlich größer als die einer Hauskatze) hin zu Spuren, die wir nicht einordnen können. Glücklicherweise haben wir unsere Stiefel an, denn der Weg ist matschig und teilweise überflutet. Leider kommen wir nicht bis zum Gletscher, an einer kleinen, wunderbaren Lagune ist Schluss. Wir laufen zurück, um noch genügend Sonnenstunden zu haben, noch einmal zum Gletscher zu fahren. Als das Eis für die ARACANGA etwas zu dicht wird, steigen die Kids und ich um ins Beiboot, während Riki die ARACANGA weiter durchs Treibeis steuert. Wie im Labyrinth geht es um kleine Eisberge, die vom DInghy aus nochmal imposanter aussehen, und durch die Lücken im Treibeis in Richtung Gletscher. „Schau mal, ein Seelöwe“, meint Kira und zeigt aufs Wasser. Etwa hundert Meter entfernt schaut ein neugieriger Kopf uns an. Wir fahren langsam weiter und zu unserer Freude kommt das neugierige Tier auf uns zugeschwommen. Es ist riesig und streckt immer wieder den Kopf heraus, um uns mit seinen neugierigen Augen zu beobachten. Als es, ohne uns aus den Augen zu lassen, nur wenige Meter vor dem Beiboot vorbeischwimmt, erkennen wir die flache Schnauze mit dem großen Maul sowie die markanten Tüpfel auf dem Fell: Das ist ein Seeleopard, kein Seelöwe!

Seeleopard in der San Rafael Lagune
Knapp vor unserem Dinghy schwimmt der Seeleopard vorbei

Die Szene aus dem Buch Empire Antarctica vor Augen, wie eine britische Forscherin von ebenso einem Tier getötet wurde, geben wir Gas und drehen ab. Wir sehen das Tier kurz darauf noch ein zweites Mal, ziehen es aber vor, ihm aus dem Weg zu gehen. Im Dinghy, nur wenige Zentimeter von der Wasseroberfläche sitzend, fühlt man sich doch verwundbarer als von Bord der ARACANGA aus. Trotzdem, gerade solche schaurig-schönen Begegnungen sind unbezahlbar. Wir sind wie elektrisiert von dem Anblick dieser Robbe, die deutlich über drei Meter und somit ebenso groß wie unser Beiboot ist. Wie wir später nachlesen, ist sie auch deutlich schneller als wir. Den Kindern erzähle ich, um nicht unnötig Angst zu schüren, erst als wir zurück an Bord sind, was für ein Tier wir da gesehen haben. Wir alle sind gruselig-fasziniert, als wir den Wikipedia-Artikel über den Seeleoparden lesen: Seeleoparden sind die gefährlichste Robbenart, sie werden bis zu vier Meter lang und 400 Kilo schwer. Es gab zwar nur einen Todesfall, von dem ich ironischerweise erst am Tag zuvor gelesen habe, jedoch mehrere bekannte Angriffe auf Menschen. Die Tiere scheuen sich auch nicht, Schlauchboote anzugreifen oder in deren Schwimmkörper zu beißen. Unser Beiboot ist zwar seit zwei Jahren kein Schlauchboot mehr, sondern hat einen festen Rumpf, aber ob das das Tier auch so sieht?

Eis im Rio Tempanos
Der Rio Tempanos, was übersetzt Eisbergfluss bedeutet, macht seinem Name alle Ehre

Rückweg. Kurz vor dem Rio los Patos werden die Kinder nochmal aufs Klo geschickt, man lernt schließlich dazu, und zurück im kaffeebraunen Fluss gelingt das Ankermanöver diesmal auf Anhieb. Die drei Bäume für die Landleinen kommen uns mittlerweile schon vor wie alte Bekannte. Diesmal wollen wir für zwei Nächte bleiben, um dann mit passender Tide und gutem Wetter den Rückweg nach Norden anzutreten.

Herzliche Grüße von den vier ARACANGAs Naia, Kira, Riki und Martin


Eine spannende Geschichte aus einer phantastischen Welt – inspiriert von unseren Erlebnissen

Ein Kommentar

  1. Sehr schöner Bericht und Bilder, da könnt ihr euch noch auf einige schöne Gletscher auf den weiteren Weg freuen. Bei dem Seeleoparten wäre ich gerne dabei gewesen.
    Gruß von euren aktuellen Nachbarn, Jochen und Sabine SY JOSA

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