
Patagonien ist riesig. Misst man eine grobe Route von Valdivia auf der chilenischen Seite bis Kap Hoorn im Süden, beträgt diese gute 1.000 Seemeilen (1.852 Kilometer), auf der argentinischen Seite sind es von Kap Hoorn bis Mar del Plata sogar noch etwas mehr. Und möchte man auf dem Weg auch noch ein paar schöne Buchten, Inseln und Fjorde sehen, kann man getrost ein paar hundert Meilen oben drauf rechnen. Valdivia – Kap Hoorn – Mar del Plata, das ist die Region, die unser Cruising Guide abdeckt, das vermutlich teuerste, aber auch unentbehrlichste Buch, das wir je gekauft haben. Bedenkt man, dass das Buch 718 Seiten hat, bekommt man einen Eindruck davon, wie riesig und weitläufig das Gebiet ist. Unter den Seglern hier unten wird das Buch einfach nur „The Bible“ genannt.
Schon vor unserer Ankunft in Puerto Montt stand die Überlegung im Raum (oder sagt man besser in der Kajüte?), mehr als nur eine Saison in Patagonien zu verbringen und nicht in einem Sommer (der hier auf der Südhalbkugel von Dezember bis Februar geht) bis nach Puerto Williams ganz im Süden und wieder zurück zu hetzen. Mittlerweile denken wir sogar darüber nach, noch länger hier zu bleiben, da die ganze Region von so überwältigender Schönheit ist. Aber langfristige Vorausplanung war noch nie unsere Stärke und wir lieben die Freiheit, Pläne zu ändern. Pläne sind das, was wir bei Ebbe in den Sand schreiben.

Aktuell sind wir in der Region rund um die Insel Chiloe unterwegs. Die Insel, die Fjorde auf der Festlandseite und die vielen kleinen Inselchen dazwischen sind der nördliche Teil Patagoniens und ein Segelparadies für sich. Nicht wenige Segler bezeichnen die Gegend rund um Chiloe als eines der schönsten Reviere der Welt. Von Puerto Montt kommend segeln in den Golf von Ancud und besuchen die Fjorde auf der Festlandseite, nach einem ungeplanten Reparaturstopp zurück in Puerto Montt geht es dann in Richtung Chiloe. Einer unserer ersten Stopps ist die Lagune Huite im Norden der Insel, es ist auch einer unserer Lieblingsorte auf Chiloe. Rundum geschützt wettern wir hier eine kleine Sturmfront ab, bevor wir zur vorgelagerten Inselgruppe Mechque segeln, wo es eine sehr kleine Marina gibt, die wir uns gerne anschauen möchten. Die Marina Puduhuapi auf dem gleichnamigen Inselchen ist ziemlich einsam und abgelegen, dafür absolut sicher und günstig, der Ideale Ort, um unsere ARACANGA für den südlichen Winter zu parken, denn von Juni bis September werden wir nach über zwei Jahren wieder einmal einen Heimaturlaub machen und Familie und Freunde in Deutschland besuchen. Wir bleiben zwei Nächte in der Marina auf der unbewohnten Insel, wo es lediglich ein kleines, nur während des Sommers bewohntes Häuschen des Hafenmeisters und ein weiteres, wunderbares Gebäude mit Küche, Bad und Kaminofen gibt, das wir mitbenutzen dürfen. Wir pflücken Brombeeren und Äpfel und kochen Marmelade ein, unternehmen Spaziergänge über die Insel und spielen mit Karla, dem riesigen und riesig kinderlieben Marinahund. Als wir nach der Bezahlung für die zwei Nächte fragen winkt Carlos, der Betreiber der Marina, nur ab und meint, das sei im Winterliegeplatz inklusive und wir sollen doch kommen, wann immer und so oft wir möchten.

Quehui, eine kleine Insel etwas weiter im Süden, ist unser nächster Ankerplatz. Unterwegs zwischen den Inseln müssen wir uns mittlerweile warm einpacken, Seestiefel, Strickpulli, Fleecejacke, Weste und Mütze zählen zur Standardausrüstung. Quehu bietet eine ebenso geschützte Lagune wie Huite und einen kleinen Steg, an dem wir unser Dinghy anbinden können. Ohne Steg geht es zwar auch, aber wegen des großen Tidenunterschieds von sechs Metern und mehr sollte man mitrechnen und seinen Landeplatz gut auswählen, möchte man das Dinghy ein paar Stunden später nicht hundert Meter durch den Dreck und Schlamm ziehen. Quehui ist ein verschlafenes Nest, viele der Häuser sind nicht bewohnt, es macht einen etwas traurigen Eindruck. Fragt man jedoch die Kinder, werden sie sagen, Quehui ist super, denn es hat einen Spielplatz mit einer kleinen Spielfähre. Das ist auch der Grund, warum wir einige Tage später noch einmal in der Lagune von Quehui ankern.

Via Rilan, einer weiteren gut geschützten Ankerbucht, segeln wir nach Castro, der Inselhauptstadt von Chiloe. Aus ein-, zwei geplanten Nächten wird schnell eine Woche, denn es kündigt sich wieder einmal eine Sturmfront aus Norden an, die wir hier in Castro abwettern. Das Zentrum des Tiefs zieht etwas südlich von uns durch, dort hat es bis zu 65 Knoten, was Windstärke 12 bzw. Hurrikanstärke bedeutet. In Castro bekommen wir „nur“ ca. 35 Knoten Wind und viel, viel Regen ab. Freunde von uns sind zu dieser Zeit in einer Ankerbucht ziemlich im Kern des Tiefs. Das gute an den Kanälen Patagoniens ist, dass man selbst für solches Extremwetter immer eine geschützte Ankerbucht findet. Hier führt jedes Boot neben einem ordentlichen Ankergeschirr mehrere hundert Meter Landleinen mit, um sich zusätzlich zum Anker an ein bis vier Punkten an Land, z.B. Bäumen oder Felsen, anzubinden. In Castro haben wir diese Möglichkeit nicht, aber für die hier vorhergesagten 35 Knoten Wind fühlen wir uns auch nur am Anker sicher. Wir nutzen den Stopp in Castro, um unsere Vorräte für die kommenden Monate nochmals zu ergänzen und wieder aufzufüllen und besuchen das Kinderkulturzentrum. So nett und sympathisch es hier ist, nachdem das Tief durchgezogen ist sind wir froh, die Stadt hinter uns zu lassen und wieder in abgelegenere Ecken zu segeln.

Via Quehui, wo die Kids nochmal ausgiebig an dem kleinen Spielplatz spielen und wir zwei Wanderungen unternehmen, eine bei Sonne und eine im strömenden Regen, segeln wir in den Fjord Estero Palidad, einen tiefen Einschnitt etwas weiter im Süden. Der Fjord und die Ankerbucht sind traumhaft schön, ein großes Hochdruckgebiet hat das Tief abgelöst, weiße Schwäne mit schwarzen Hälsen schwimmen ums Boot, Delfine tummeln sich im Fjord und Seelöwen strecken neugierig ihre Köpfe aus dem Wasser, als wir vorbeikommen. Die Ortschaft ist noch ausgestorbener als Quehui, aber es gibt eine Schaukel und ein Klettergerüst. Zwei Nächte bleiben wir hier, bevor es weiter nach Süden geht. Es ist fast Vollmond, das bedeutet, dass der Tidenunterschied besonders hoch und die Strömungen zwischen den Inseln sehr stark sind. Wir schießen mit über zehn Knoten durch den schmalen Kanal zwischen Chiloe und Tranqui und trotz des ruhigen Wetters baut sich am Ende des Kanals, wo sich die Wassermassen mit denen von der anderen Seite der Insel Tranqui treffen, eine stattliche Welle mit gewaltigen Strudeln und Verwirbelungen auf.

Auch in der schmalen Einfahrt zu unserem nächsten Ankerplatz steht eine beeindruckende Strömung, da sich sämtliche Wassermassen des großen dahinterliegenden Fjords durch diese Enge drängen, was bei sechs Metern Unterschied von Flut zu Ebbe eine ganze Menge Wasser ist. Der Ankerplatz ist, wie die meisten, wunderschön und super geschützt. Mit dem Dinghy fahren wir zur Sandbank, wo die Kids endlich mal wieder in feinem Sand buddeln, bauen und sich so richtig einsauen können und von wo aus wir einen gigantischen Blick auf die schneebedeckten Andengipfel haben.
Von Huildad aus nutzen wir das ruhige Hochdruckwetter, um über den Golf Corcovado auf die Festlandseite zu fahren. Zwar müssen wir früh los und zunächst ein paar Stunden gegen den starken Tidenstrom an, aber ein solches Wetterfenster ist wie ein Geschenk, das wir um diese Jahreszeit, hier unten ist mittlerweile Herbst, nicht mehr allzu häufig bekommen werden. Die Überfahrt ist schaukelig, aber unspektakulär, und am späten Nachmittag kommen wir in der bislang schönsten Ankerbucht an, der Inselgruppe Puerto Juan Yates, auch als TicToc bekannt.

Die Inselgruppe ist ein Labyrinth aus kleinen Felsen, Inselchen und Untiefen und bereits in der Einfahrt in die Bucht werden wir von Toninas begrüßt. Toninas, Weißbauchdelfine, sind eine kleine, verspielte und neugierige Delfinart ohne vorstehende Schnauze, die ausschließlich hier im Süden Chiles anzutreffen sind. Die Tiere begleiten uns bis zum Ankerplatz, dazu sehen wir zahlreiche Magellanpinguine, Seelöwen, Kormorane und große Quallen, die vom Sonnenlicht angeschienen wie Wesen aus einer anderen Welt anmuten. TicToc ist unser patagonisches Highlight bislang. Wir verbringen den restlichen Nachmittag auf den warmen Steinen einer der Inselchen, und während die Kinder rennen, klettern und spielen können und wir in Ruhe ein kühles Bier und die einzigartige Natur genießen.

Wir neigen nicht dazu, das Segel- und Bootsleben über alles zu stellen. Es hat seine Vor- und Nachteile, seine Höhen und Tiefen, wie alles andere auch. Als den besten Kompromiss, so würden wir es vielleicht bezeichnen, ganz subjektiv für uns. Frägt man uns jedoch in genau diesem Augenblick, auf den sonnengewärmten Felsen von TicToc, so wäre die Antwort: Besser kann es kaum werden, das ist schwer zu toppen.
In diesem Sinne, sonnige Grüße aus TicToc senden die vier ARACANGAs Naia, Kira, Riki und Martin

Eine spannende Geschichte aus einer phantastischen Welt – inspiriert von unseren Erlebnissen