Nach Süden bis zum ersten Gletscher und dann langsam zurück in Richtung Norden – das ist unser Plan für diese Saison. Der nördlichste ins Meer mündende Gletscher Patagoniens und überhaupt der nördlichste der Südhalbkugel seiner Art ist der San Rafael Gletscher, der in die gleichnamige Lagune mündet.
Der Estero Elefantes

Von Puerto Aguirre aus, wo der letzte Blogartikel endet, sind es noch etwa 100 Seemeilen nach Süden bis dorthin. Wir warten ein gutes Wetterfenster mit einem sich anbahnendem Hochdruckgebiet ab und planen für die Strecke etwa drei Tage ein. Zunächst geht es durch schmalere Kanäle und vorbei an kleinen Inselchen und flachen, teils nur wenige Zentimeter aus dem Wasser ragenden Felsen, bis wir den Estero Elefantes erreichen, einen langen Kanal in Nord-Süd-Richtung. Dieser hat seinen Namen von der großen Population von Seeelefanten, die früher den Kanal bevölkert haben. Leider wurde der südliche Seelefant, die größte Robbenart der Welt, in den vergangenen Jahrhunderten stark gejagt und an den Rande der Ausrottung gebracht. Heute haben sich die Bestände erholt, bis in den Estero Elefantes sind die bis zu sechseinhalb Meter langen und dreieinhalb Tonnen schweren Tiere jedoch (noch) nicht zurückgekehrt. Lediglich in der Lagune San Rafael, dem südlichsten Ende des Estero Elefantes, gibt es ein paar vereinzelte Rückkehrer.

Das Wetter ist wechselhaft aber trocken, der Himmel vormittags verhangen und später blau, die Landschaft wieder einmal atemberaubend schön. An Backbord ragen die schneebedeckten Gipfel der westlichsten Andenkette in die Höhe, im Osten und Süden erstreckt sich ein schier endlosens Labyrinth aus Inseln, Kanälen, Buchten und Fjorden. Wir sehen Seelöwen und Seehunde, die neugierig ihre Köpfe aus dem Wasser strecken, um uns zu beobachten. Auf den flachen Felsen am Ufer liegen ganze Kolonien der Tiere und genießen, genau wie wir, die Sonne. Chilenische Delfine kommen neugierig-schüchtern vorbei und ziehen dann weiter ihres Weges, während die verspielten großen Tümmler unsere ARACANGA auf dem Weg nach San Rafael begleiten und die Kids mit ihren kunstvollen Sprüngen begeistern. Wir freuen uns über die Vielfalt des Lebens hier, stellen uns aber immer wieder die Frage, wie es hier wohl vor der Ankunft von Robben- und Walfängern erst ausgesehen haben muss.

Für die Nacht peilen wir eine Ankerbucht auf der Festlandseite an, die wir allerdings vor Einbruch der Dunkelheit nicht ganz erreichen können, daher entscheiden wir uns für einen Ankerplatz an der Ostseite der Insel Traiguen. Zwischen einer kleinen Insel und einem Felsen hindurch fahren wir in das Innere der Bucht, wo der Anker auf acht Metern Wassertiefe fällt. Wie immer sind wir die einzigen Menschen. Die Bucht ist voll von Springkrebsen, sie sehen aus wie sehr kleine, gedrungene Hummer. Wie sehen die Tiere hier zum ersten Mal, in den nächsten Tagen jedoch häufiger, teilweise ist das Wasser um uns herum voll von den Tieren.
Am nächsten Morgen ist es richtig kalt, sowohl unter- als auch an Deck. Nebel liegt auf dem Wasser und verleiht der ganzen Kulisse etwas Magisches. Die Decks sind gefroren und Kira und Naia, die Schnee und Eis bisher kaum kennen, sind ganz fasziniert von der neuen Erfahrung. Bis die Fingerchen ebenso kalt und gefroren sind wie das Deck, wird das Eis abgekratzt erforscht.

Dann heißt es Anker auf, wir wollen das Hochdruckwetter nutzen, um nach Süden zu kommen und hoffen, dass es noch ein paar Tage anhält. Das Ziel für heute ist Estero Odger, eine Ankerbucht etwa 40 Meilen von San Rafael entfernt. Die Tidenströmung ist stark, sechs Stunden bei ablaufendem Wasser nach Nord setzend und bei auflaufendem Wasser während des Flutstroms in die entgegengesetzte Richtung. Zunächst sind wir recht langsam unterwegs, mit dem etwas später einsetzenden Schiebestrom geht es dann deutlich schneller. Wir notieren genau, zu welcher Uhrzeit der Strom kentert (seine Richtung ändert), da wir am darauffolgenden Tag zwei Engstellen passieren müssen, wo sich sämtliches Wasser durch eine schmale Passage drängt und wo die Strömung deutlich stärker sein kann, als wir unter Maschine fahren können. Die erste Engstelle wollen wir genau bei Stillwasser passieren, also während der kurzen Zeitspanne zwischen Ebb- und Flutstrom, die zweite Engstelle dann etwa eine Stunde später mit auflaufendem Wasser. Flut und Ebbe verschieben sich jeden Tag um eine knappe Stunde, somit wissen wir genau, wann wir am Tag darauf wo sein müssen.

Estero Odger ist eine lange, schmale Bucht. An Backbord kommt ein Wasserfall aus den Felsen ins Meer, etwas weiter im inneren der Bucht sind zwei kleine Strände. Mittig in der schmalen Bucht lassen wir den Anker fallen und geben gerade so viel Ankerkette, dass wir von Strand und Felsen frei sind. Das Wetter ist und bleibt ruhig, daher verzichten wir auf das Ausbringen von Heckleinen und fahren stattdessen lieber an den Strand, wo die Kids endlich mal wieder so richtig ausgiebig buddeln und sandeln können.
Die Bahia San Rafael

Wie geplant sind wir am kommenden Tag genau zu Stillwasser an der ersten Engstelle. Sieben Meilen weiter ist die zweite Engstelle, die Einfahrt in die Bahia San Rafael, die große Bucht vor der Einfahrt in die Lagune San Rafael. Eine Stunde später sind wir dort und lassen uns von der Strömung vom Estero Elefantes in die große Bucht schieben. Die Bucht ist flach und nur am äußeren Rand befahrbar, dort sorgen die mit jedem Ebbstrom aus der Lagune gespülten Eisstücke dafür, dass ein befahrbarer Kanal mit mehreren Metern Wassertiefe vorhanden ist. Wir befahren den Kanal bei auflaufendem Wasser, somit müssen wir auch keine Angst haben, dass uns Eis entgegenkommt. Im flachen Wasser sehen wir trotzdem unsere ersten Growler und Bergy Bits, wie die kleineren Bruchstücke von Eisbergen genannt werden. Ein Eisberg wird ab einer Höhe von etwa 5 Metern und einer Fläche ab 100 Quadratmetern als solcher bezeichnet, die größeren Bruchstücke davon nennen sich Bergy Bits und die Stücke, die kleiner als etwa 2 Meter sind, nennt man Grower. Als Treibeis bezeichnet man loses Eis im Wasser, das aus Growlern und noch kleineren Eisstücken besteht. Das Jahrtausende alte Gletschereis ist steinhart und kann nicht ungefährlich für das Boot sein.

Wir fahren unter Maschine durch die San Rafael Bucht und an deren Ende in den Rio Tempanos, was übersetzt der Eisbergfluss bedeutet. Wenige Meilen flussaufwärts mündet der Rio Los Patos in den Rio Tempanos, ein schmaler Fluss mit weniger Strömung und kaum Eis, der einen sicheren Ankerplatz verspricht. Die letzte Hürde ist, bei starker Strömung aus dem eisblauen Tempanos in den kleinen, kaffeebraunen Los Patos einzufahren. Blau und braun grenzen sich entlang einer scharfen Kante im Wasser klar voneinander ab, an der sich Strudel und Verwirbelungen bilden, die unsere ARACANGA einmal stark nach Steuerbord reißen, dann sind wir drin. Der Fluss ist gefühlt nicht sehr viel breiter als unser Boot lang. Wir motoren wenige hundert Meter flussaufwärts, wenden an einer etwas breiteren Stelle und ankern dort unser Boot mit dem Bug flussabwärts zeigend. Achtern sichern wir uns mit je einer langen Leine an jeder Uferseite, die wir an uns als geeignet erscheinenden Bäumen festknoten. Zusätzlich zum Anker bringen wir später am Bug noch eine Leine nach Steuerbord aus, so dass wir an vier Punkten gesichert liegen. Es ist zu spät für größere Unternehmungen, aber das verbleibende Sonnenlicht reicht noch für eine Spritztour mit dem Dinghy in den Rio Tempanos, um dort etwas Gletschereis für einen kühlen Drink zu besorgen, denn in Puerto Aguirre wurde uns gesagt, dass das zur guten Tradition gehört. Wir sammeln ein vorbeitreibendes Stück Eis ein, fahren weiter bis zum ersten Growler, der ausgiebig begutachtet und von den Mädels neugierig abgeschleckt wird. Jede mit einem Stück Eis in der Hand, gesund und zuckerfrei und in diesem Moment trotzdem tausendmal besser als von der besten italienischen Eisdiele, sitzen die Kids im Dinghy, während wir uns langsam auf den Heimweg machen. Morgen wollen wir in die Lagune und dann endlich den Gletscher sehen.
Herzliche Grüße senden Naia, Kira, Riki und Martin

Eine spannende Geschichte aus einer phantastischen Welt – inspiriert von unseren Erlebnissen